Hätte ich doch (Variante 2)

Einstieg für das Thema „Vertane Chancen“, wo aber eine gewisse Verbitterung durchkommt.

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Claudia: Claudia
Bärbel: Bärbel (Claudias Tochter)
Nachbarin: Nachbarin

Claudia sitzt an einem Tisch, seitlich zu Publikum und liest einen Brief.

Claudia Wow, ein Stipendium. Nun darf meine kleine Tochter ein Jahr in die USA. (seufzt)

Bärbel (Kommt rein, ist euphorisch) Was sagst Du? Mein Stipendium wurde genehmigt. Ich darf fahren, Juchhu.

Claudia Ich freu mich für dich und bin auch ein bißchen neidisch.

Bärbel Neidisch auf USA? Du? Aber wir waren doch nie weiter als Holland im Urlaub. Warum sind wir denn nie weiter weg gefahren?

Claudia Hallo??? Zum einen hatten wir nie viel Geld. Dein Vater hat schon lange keinen Job mehr und noch nie Unterhalt gezahlt. Da war mehr als Holland eben nicht drin. Und zum anderen war ich ja auch einmal jung. Ich hatte nach meiner Ausbildung ein tolles Angebot, ein Jahr in Kalifornien zu arbeiten.

Bärbel Warum hast Du es nicht gemacht?

Claudia Ich hatte da gerade Deinen Vater kennengelernt und mich verliebt. Und er wollte nicht mitkommen, da er ja einen ach so guten Job als Meister in der Tubenfabrik hatte. Und fünf Jahre später war die Fabrik pleite, Dein Vater arbeitslos und du warst da. Und dann ging es nicht mehr.

Bärbel Das hast Du mir noch nie erzählt. Aber wieso hast Du das nicht später nachgeholt?

Claudia Und wie wäre das gewesen? Ein kleines Kind, das sowieso unter der Trennung sehr gelitten hat, in einem fremden Land in eine Ganztagsschule geben, oder gar in ein Internat? Hier konnte mit einem Halbtagsjob für Dich da sein und wir sind ja auch über die Runden gekommen.
Und heutzutage wird so ein Angebot nur noch Jüngeren gemacht, da ist für mich der Zug schon lange abgefahren. (klingelt) Oh, es hat geklingelt. Machst Du mal bitte auf?

Nachbarin (kommt auf die Bühne) Hallo, ihr zwei (Küßchen rechts, Küßchen links) , was gibt es neues?

Bärbel Ich habe das Stipendium bekommen, ich darf ein Jahr in die USA zum Schüleraustausch.

Nachbarin USA? Das ist doch so weit weg. Ist es da nicht gefährlich? Man hört doch so viel von Verbrechen und so.

Bärbel Ach was. (verdreht die Augen) Das hängt doch von der Gegend ab, wo man hinkommt. Ich muß jetzt los, ich möchte heute abend mit meinen Freundinnen feiern. (geht von der Bühne)

Nachbarin Diese jungen Leute...

Claudia Ein Jahr ins Ausland, in drei Jahren Abitur, damit hat sie alle Möglichkeiten.

Nachbarin Abitur, ach, (seufzt) das hätte ich auch machen können, aber meine Noten waren zu schlecht.

Claudia Wie jetzt? Man braucht doch gute Noten für's Abitur?

Nachbarin Ja, ich weiß. Mein Bruder hatte diesselben Ausgangsbedingungen und hat es geschafft, weil er immer wieder Nachhilfe bekommen hat. Meine Eltern hatten immer nur ihn im Blick und so kam ich nur zu einem Hauptschulabschluß. Aber mein Bruder, der Herr Ingenieur, der wurde von meinen Eltern immer vorgezeigt; ich bin ja nur Verkäuferin. Hätte man mich damals gefördert, denn hätte mein Leben ganz anders werden können.

Claudia Aber Du hast doch einen lieben Mann und nette Kinder.

Nachbarin Ja, ja, ich will mich ja nicht beklagen. Aber wie ist denn meine berufliche „Karierre“. Sie schwankt zwischen Hausfrau und Aushilfsverkäuferin. Und außerdem sind die Kinder ja auch bald aus dem Haus, und dann? Dann setze ich mich in den Vorgarten, stricke den ganzen Tag oder gehe töpfern und hoffe auf Enkel, denn sonst habe ich ja nichts zu tun; mein Mann verdient ja das Geld.

Claudia Ja...

Nachbarin Tja, wenn es in Zukunft doch mal nicht mehr klappt? Wenn mein Mann eine jüngere, erfolgreichere Frau findet, die die Chancen in ihrem Leben genutzt hat? Dann kann ich mir dann jeden Morgen an der Trinkhalle am Stadtpark eine Harz-4-Fachberatung abholen und über vergangene Zeiten jammern!

Claudia (sich unwohl fühlend) Als ich finde, jetzt übertreibst Du. Daniel würde dich nie verlassen und außerdem kannst Du Dich doch immer noch weiterbilden...

Nachbarin Ach, der Zug ist doch abgefahren. Ich muß halt akzeptieren, daß es so ist, wie es ist. (deprimiert) Du hast eine Ausbildung und deine Chancen genutzt. Und was habe ich?