Dirk kam müde am Frankfurter Bahnhof an. Er war das ganze Wochenende bei seinem Onkel Albert gewesen. Er mochte seinen Onkel, obwohl der manchmal ziemlich anstrengend war. Und nun hatte der Onkel ihm das Tagebuch seines Großvaters mitgegeben, für das sich Dirk schon lange brennend interessierte und das er jetzt in seiner kleinen Aktentasche bei sich trug.
Er hatte seinen Großvater nie kennen gelernt, weil der gestorben war, bevor Dirks Eltern sich kennengelernt hatten. Immer, wenn Dirk nach dem Großvater fragte, wich ihm sein Vater aus und wurde ärgerlich, so daß Dirk irgendwann aufhörte zu fragen. Nun hoffte er, im Tagebuch mehr über seinen Großvater zu erfahren. Seine Neugier mußte er aber noch bezähmen, da das Tagebuch schon sehr zerfleddert war und er es daher zur Sicherheit erst zu Hause auspacken wollte.
Dirk ging zügig zu seinem Bahnsteig, denn er hatte nicht mehr viel Zeit, bis der ICE von Frankfurt nach Köln abfuhr.
Dabei rempelte er aus Versehen eine Frau an.
„Passen Sie doch auf!“ herrschte sie ihn an und schaute irritiert, weil plötzlich Musik aus Dirks Tasche ertönte.
„Entschuldigen Sie bitte“, entschuldigte er sich, öffnete seine Tasche und fügte hinzu: „Das ist nur mein MP3-Player.“
Die Frau ging kopfschüttelnd weg und Dirk machte den MP3-Player aus.
'Der blöde MP3-Player', dachte Dirk. 'Wenn man ihn nicht richtig mit dem Schiebeschalter abschaltet, dann kann er schon angehen, obwohl man nur mit der Tasche wackelt. Und sind keine Kopfhörer eingesteckt, dann gehen immer die eingebauten Lautsprecher an. Ich muß mir wohl irgendwann einmal einen besseren holen.'
Sein ICE kam und er stieg ein und nach längerem Suchen fand er seinen reservierten Sitz, weit vorne im Zug, am Fenster auf einem Zweiersitz in einem Großraumwagen. Er nahm die Aktentasche auf seinen Schoß und hielt sie fest.
Neben ihm nahm ein Mann Platz, welcher Dirk kurz zu nickte.
Dirk holte die Kopfhörer aus der Tasche, stöpselte sie ein und hörte etwas Musik. Entspannt lehnte er sich zurück. 'Rock'n Roll, es gibt nichts Besseres nach so einem Tag. Geil, wie Jerry Lee Lewis Klavier spielt.', dachte er.
Da kam der Kontrolleur. Dirk drückte die Stoptaste und zeigte seine Fahrkarte.
Danach merkte er, daß er etwas müde war und nickte ein.
Als er wieder aufwachte, war seine Tasche weg. Er sah sich hektisch um, schaute auf den Boden und guckte unter seinen Sitz und unter den Nachbarsitz.
Auf der anderen Seite vom Mittelgang saß ein Mann, der in seine Zeitung vertieft war.
Dirk fragte ihn: „Haben Sie meine Tasche gesehen?“
Der Mann schüttelte den Kopf.
Dann bemerkte er, daß er die Kopfhörer noch im Ohr hatte. Sie waren ausgestöpselt. Langsam begriff er, daß jemand die Tasche genommen hatte und dazu war sein Sitznachbar verschwunden.
'Es saß doch vorhin jemand neben mir. Wie sah der noch aus? Mist, warum kann ich mir keine Gesichter merken. Was mache ich denn jetzt? Mein Portemonnaie, meine Papiere, mein Handy, alles weg.'
Und dann fiel ihm das Tagebuch seines Großvaters ein und er hatte das Gefühl, als würde er den Boden unter seinen Füßen verlieren.
'Hat Onkel Albert nicht immer wieder gesagt: „Paß gut auf das Tagebuch auf, mein Junge“? Was soll ich ihm denn jetzt sagen? Und wie dreist der Dieb ist! Stöpselt den Kopfhörer aus und klaut mir die Tasche vom Schoß. Hat das denn keiner gemerkt?'
Da fiel Dirk ein, daß der Zug ohne Zwischenstop bis Köln fährt. Er schaute auf die Uhr: Noch eineinhalb Stunden bis Köln.
Er wandte sich noch einmal an den zeitunglesenden Fahrgast: „Haben Sie den Mann gesehen, der vorhin hier neben mir saß?“
Der Mitreisende blickte auf: „Äh, nicht so richtig. Ich glaube, der ist vorhin weggegangen. Nach hinten glaube ich.“
Dirk sprang auf und rannte nach hinten in den nächsten Wagen, aber er sah niemanden gehen und er konnte sich auch einfach nicht erinnern, wie der Mann aussah, obwohl er sich den Kopf zermarterte. Dann kam er zurück und rannte in die andere Richtung, aber auch ohne Erfolg.
Als er wieder zu seinem Platz zurückkam, fragte ihn der Mitreisende: „Was ist denn passiert?“
Dirk antwortete: „Meine Tasche ist weg. Dieser Mann neben mir hat mich wohl bestohlen.“
„Das tut mir leid.“ entgegnete der Mitreisende. „Am Besten, Sie wenden sich an den Schaffner.“
„Sind sie sicher, daß der Mann nach hinten gegangen ist?“ fragte Dirk noch einmal nach.
„Ganz sicher bin ich mir nicht, ich glaube aber schon.“
Dirk ging wieder nach hinten und sah sich jeden Reisenden genau an und hoffte, es würde in seinem Kopf „klick“ machen, aber nichts dergleichen passierte. Er ging konzentriert von Wagen zu Wagen. Da fand er einen Schaffner und schilderte ihm die Situation.
„Vielleicht können Sie Ihr Handy anrufen.“ sagte der Schaffner und gab Dirk sein Handy.
Dirk wählte seine Nummer und sie gingen zügig weiter durch den Zug. Dann hörten sie ein Klingeln.
'War das jetzt mein Klingelton?' fragte sich Dirk.
Es kam aus dem nächsten Abteil. Sie gingen hinein, aber das Klingeln war schon verstummt und Dirk fragte ins Abteil, wessen Handy gerade geklingelt hatte.
„Meins“, erwiderte ein Fahrgast, „aber was geht sie das an?“
'Ist das der Mann? Warum habe ich nur so ein schlechtes Personengedächtnis!', dachte Dirk und zermarterte sich erneut seinen Kopf.
„Könnten wir Ihr Handy bitte einmal sehen?“, fragte der Schaffner.
„Warum? Was soll denn das überhaupt?“. Der Fahrgast wurde immer ärgerlicher.
„Bitte“, antwortete der Schaffner. „Wir möchten nur ein Mißverständnis ausschließen.“
Der Fahrgast brummte etwas Unhöfliches und holte sein Handy hervor. Aber es war nicht Dirks Handy.
Dirk entschuldigte sich und sie gingen weiter. Sie fragten erfolglos in jedem weiteren Abteil, ob ein Handy-Klingeln zu hören war. Aber außer einem stummen Kopfschütteln kam keine Antwort.
Als sie am Ende des Zuges ankamen, sagte der Schaffner zu Dirk: „Ich werde im Kölner Hauptbahnhof anrufen, daß Polizei zum Bahnsteig kommt. Vielleicht finden wir den Mann ja noch.“
Dirk ging langsam wieder zurück. Die Fahrt dauerte noch eine halbe Stunde bis Köln und er fühlte, wie ihm die Zeit davon lief.
'Was mache ich nur, wenn ich den Mann nicht finde? Das Tagebuch bekomme ich doch nie wieder. Was soll ich nur Onkel Albert sagen?'
Da kam ihm eine neue Idee. Er beschleunigte seinen Gang und fragte in jedem Abteil, ob jemand erst ein paar Minuten nach der Abfahrt in das Abteil gekommen ist. Einige schüttelten mit dem Kopf, aber die meisten reagierten überhaupt nicht mehr.
Inzwischen hatte der Zug den Kölner Standrand erreicht und näherte sich dem Hauptbahnhof.
Dirk wurde immer verzweifelter: 'Was soll ich nur machen? Wenn der Zug erst einmal gehalten hat, dann ist alles vorbei.'
Er ging weiter und kam in einige Großraumwagen, wo er rief: „Bitte, derjenige, der meine Tasche hat. Bitte geben sie mir das Tagebuch meines Großvaters, das in der Tasche ist. Ich zeige sie auch nicht an. Oder schicken sie mir es bitte zu.“
Er sah die Blicke der Mitfahrer, von desinteressiert bis mitleidsvoll, aber es gab sonst keine Reaktion. Viele begannen ihre Sachen zusammenzupacken und achteten gar nicht auf Dirk.
Langsam fuhr der Zug in den Bahnhof ein. Resignierend ging Dirk langsam zu einer Tür, vor der es langsam voll wurde. Als der Zug stand, öffnete sich die Tür und die Leute drängten raus.
'Jetzt ist es vorbei', dachte Dirk.
Da hörte er auf einmal Musik:
„Come on baba, you drive me crazyDas war Jerry Lee Lewis!
Goodness gracious great balls of fire“.
Ein Mann schaute irritiert auf die Plastiktüte, die er trug und blickte dann Dirk an.
Dirk zeigte auf ihn und rief erregt: „Sie haben meine Tasche gestohlen.“
Der Mann stürzte aus dem Zug und stieß dabei andere Leute beiseite.
Dirk drängelte sich hinterher und rief aus der Tür: „Haltet den Dieb, den Mann mit der Plastiktüte!“
Die Polizisten, die der Schaffner angefordert hatte, waren auf dem Bahnsteig und hörten Dirks Rufen.
Sie liefen zu dem fliehenden Mann und nahmen ihn fest.
Atemlos kam Dirk angelaufen: „Er hat meine Tasche.“
Einer der Polizisten öffnete die Plastiktüte und holte Dirks Tasche heraus.
„I say goodness gracious great balls of fire...oooh..“