Das Paßwort

Peter Schütt

2010-06-11

'Schon wieder ein Abriß vom Chef', dachte Thomas, als er im Büro von Herrn Schneider, des Abteilungsleiters, wartete. 'Dieses Warten-Lassen ist bestimmt wieder so ein Psychospielchen von ihm, um mir zu zeigen, daß er der Chef ist.'

Thomas schaute sich um. 'Ein edles Büro hat er ja, die Möbel, der Stuhl, Schreibtisch, alles nur vom Feinsten.'

Er beugte sich etwas vor: 'Was das wohl alles für Papiere auf seinem Schreibtisch sind? Aber wenn er jetzt reinkommt, während ich gerade in die Papiere gucke, dann bekomme ich richtig Ärger.'

Also bezähmte er seine Neugier und lehnte sich wieder zurück. 'Jetzt könnte er aber doch wirklich mal kommen.'

Da sah Thomas einen kleinen quadratischen Zettel liegen. Er beugte sich noch einmal nach vorne und las halblaut: „ibdg2010“.

'Was kann denn das heißen? ibdg2010?'

Thomas überlegt: 'Kann das ein Paßwort sein?' Er erinnerte sich an die neue Firmenvorschrift über Paßwörter, in der es hieß, daß ein Paßwort kein Wort mehr sein durfte, das man im Wörterbuch finden kann. Als Empfehlung dazu stand in der Firmenvorschrift, die Anfangsbuchstaben der Wörter eines Satzes zu nehmen. Und eine Zahl sollte auch irgendwie dabei sein.

'ibdg? Was kann das heißen? In Berlin der Garten? Ist Bellen der Groove? Im Bein die Gräte? Im Body die Gicht?'

Thomas lächelte vor sich hin.

'Nein, halt! Ibdg: Ich bin der Größte! Und dann noch 2010! Er hatte den Posten doch gerade erst in diesem Jahr bekommen. Ich bin der Größte, 2010! Das könnte ihm so passen! So ein überheblicher Mistkerl. Ob das wirklich das Chefpaßwort ist?'

„ibdg2010, ibdg2010, ...“, Thomas murmelte die Zeichenfolge noch ein paarmal vor sich hin.

Dann ging die Tür auf und sein Vorgesetzter, Herr Schneider, kam herein. Er nickte Thomas kühl zu und setzte sich hinter seinen Schreibtisch.

„Herr Zarger“, begann er, „Sie wissen, warum wir jetzt dieses Gespräch führen?“

Thomas antwortete: „Es hängt wohl mit dem Vertrag mit der Firma Steppins zusammen.“

„Das ist richtig“, entgegnete sein Vorgesetzter. „Durch ihren Fehler hätten wir Steppins fast als Kunde verloren und dann wäre uns ein Umsatz von über einer Million weggebrochen. Allein dadurch, daß ich mich persönlich darein gehängt habe und Steppins im Preis noch etwas entgegen gekommen bin, konnte ich das Schlimmste verhindern. Zarger, so etwas darf Ihnen nicht mehr passieren. Noch so ein Fehler, und ihre Tage in der Firma sind gezählt.“

Thomas wollte antworten: „Aber...“, doch da fiel ihm Herr Schneider ins Wort und sagte:

„Lassen Sie es gut sein, Zarger und gehen Sie wieder an die Arbeit!“

Thomas verließ das Büro und ging zu seinem Schreibtisch in einem Vier-Personen-Büro. Dabei stieg Ärger ihn ihm auf: 'Der blöde Schneider tut ja so, als wäre ich an allem schuld! Dabei habe ich nur mit den Zahlen kalkuliert, die mir die anderen Abteilungen geliefert haben. Daß es Probleme geben könnte, habe ich selber gemerkt, aber als ich mit ihm darüber sprechen wollte, wer war nicht da? Der Herr Chef, mal wieder auf Dienstreise in Amerika. Die Provision bin ich wohl auch los.'

'Na ja, dann wollen wir mal wieder', dachte sich Thomas und setzte sich an seinen Schreibtisch und loggte sich ein. Er schaute in seine Provisionsliste, wo der Steppins-Vertrag nicht mehr vorhanden war.

'Das war ja nach dem Abriß klar', dachte er.

Dann schaute er in seine Mailbox, um nach zu sehen, welche neuen Verträge er nun bearbeiten sollte.

Er stutzte: 'Da fehlen doch zwei Verträge, Kaiser und Sorger.' Gerade bei Sorger wäre es um ein Umsatzvolumen von 1 Million pro Jahr gegangen, was eine gute Provision ergeben hätte.

Thomas drehte sich zu seinen Abteilungskollegen und fragte ihn: „Du Michael, hast Du Kaiser und Sorger bei Dir in der Mailbox?“

„Nur Kaiser“, antwortete er, „, wo Sorger ist, weiß ich nicht. Ich habe mich schon gewundert. Eigentlich solltest Du sie ja beide bearbeiten, aber heute morgen war Kaiser auf einmal bei mir drinnen. Tut mir leid, ich kann da nichts für.“

Deprimiert wendete sich Thomas wieder seinem Rechner zu und guckte die vorhanden Verträge in seiner Mailbox durch. Es waren alles nur kleine Firmen, die nicht viel einbringen.

'So ist das also', dachte er bitter, 'das ist wohl die Vorstufe zum Rauswurf.'

Er unterdrückte den Ärger und fing an, die Verträge zu bearbeiten.

Gegen vier Uhr gingen die ersten Kollegen und um 17:30 Uhr war Thomas alleine im Büro. Sein Chef war auch schon gegangen.

'Warum arbeite ich überhaupt so lange, wenn die mich hier eh nicht mehr wollen?' dachte er. 'Was soll ich denn jetzt machen? Das ist doch einfach ungerecht.'

Dann fällt ihm wieder ein: ibdg2010, ibdg2010.

'Ob ich mich einfach als „Schneider“ einlogge? Was kann denn noch schlimmer werden?'

Er überlegte weiter: 'Kann man feststellen, daß ich mich als jemand anderes eingeloggt habe? Wird nicht sowieso jeder Login mitprotokolliert?'

Er loggte sich aus und direkt danach wieder ein.

'Hier wird nirgendwo die Uhrzeit des letzen Logins angezeigt, also fällt es erstmal nicht auf. Aber kann ich mich überhaupt von diesem Rechner als jemand anderes einloggen?'

Er überlegte kurz und fuhr dann den Rechner seines Abteilungskollegen hoch und loggte sich dort unter seinem eigenen Namen ein. Das funktionierte ohne Probleme und er kam auch an alle seine Dateien dran.

'Dann', so dachte er sich, 'wird es wohl funktionieren, wenn ich mich als „Schneider“ einlogge.'

Er fuhr den Rechner seines Kollegen wieder herunter und ging wieder an seinen Rechner. Er war hin- und hergerissen. Er tippte den Namen seines Chefs und das Paßwort ein und wartete noch etliche Minuten, bis er sich überwandt und „OK“ drückte.

„Unbekannter Benutzer oder falsches Paßwort“ sah er auf dem Monitor. Er hatte sich vertippt. Mit zitternden Händen gab Thomas noch einmal die Login-Daten mit dem richtigen Paßwort ein. Es funktionierte.

Ungläubig sah er die Mailbox seines Chefs offen. Er klickte ohne zu überlegen auf die erste und fing an, sie zu lesen. Sie war vom Niederlassungsleiter, Herrn Lutze. Es war eine außerordentliche Einladung zu einem Meeting aller Abteilungsleiter, in dem jeder die Zahlen seiner Abteilung präsentieren sollte.

'Hm', dachte Thomas, 'das ist aber ein knapper Termin: Morgen schon um 14:00 Uhr und heute abend erst um 17:15 abgesendet.' Aber es stand nichts über den Grund für dieses Meeting in der Mail.

Auf einmal fiel ihm siedendheiß ein, daß man ja feststellen kann, welche Mail schon gelesen wurde. Ohne groß nachzudenken drückte er die Entfernen-Taste und löschte die Mail. Aufgeregt loggte er sich aus, fuhr seinen Rechner herunter, verließ hastig die Firma und fuhr nach Hause.

Während der Fahrt nach Hause wurde er langsam wieder ruhig. 'Was habe ich getan?', dachte er. 'Das fällt doch sicherlich auf. Die Mail ist gar nicht wirklich gelöscht sondern im Papierkorb vom Schneider.'

Er versuchte sich einzureden, daß der Chef die Mail gar nicht bemerken wird. Oder er wird glauben, daß ein technischer Fehler die Mail automatisch in den Mülleimer verschoben hat.

Etwas ruhiger kam er zu Hause an. Er aß zu abend und setzte sich danach vor den Fernseher und versuchte, nicht mehr daran zu denken.

Als er am nächsten Morgen in sein Büro kam, war alles wie immer. Er war etwas aufgeregt, aber nachdem er einige ihm zugewiesene Verträge bearbeitet hatte und nichts ungewöhnliches passierte, legte sich seine Aufregung. Es war alles wie immer.

Kurz nach zwei Uhr kam Herr Schneider aus seinem Büro und Thomas sah ihn mit rotem Kopf auf dem Flur in Richtung Herrn Lutzes Büro hasten.

Eine Stunde später kam er zurück und kam mit einen finsteren Gesichtsausdruck in Thomas' Viererbüro hinein. Unwirsch befahl er Thomas' Kollegen Michael, alles stehen und liegen zu lassen, um eine Statistik der letzten Quartalszahlen anzufertigen. Der Kollege wandte ein, daß er noch drei Verträge bearbeiten müsse, die unbedingt heute noch fertig werden mußten.

„Kann das nicht jemand anders machen, Herr Schneider?“, fragte er.

Herr Schneider wollte gerade explodieren, da bot sich Thomas an, weil er nicht wollte, daß sein Kollege unter seinem Streich leiden sollte: „Herr Schneider, ich könnte das übernehmen. Ich habe für heute keine zeitkritischen Verträge mehr zu bearbeiten.“

Unfreundlich sah sein Vorgesetzter ihn an: „Machen Sie das ja ordentlich, sonst fliegen Sie noch schneller als Sie glauben!“

Und dann verließ er das Büro.

Michael wandte sich an Thomas: „Das war echt nett von Dir, vielen Dank. Aber der hat Dich echt auf dem Kieker“ und fügte leise hinzu „dieses Schwein. Du hättest mal sehen sollen, wie er den Max Leitner aus dem Büro schräg gegenüber vorhin vor allen fertig gemacht hat, wegen einer Lappalie. Sein Verhalten ist echt unter aller Sau.“

Thomas fing an, die Statistiken zu erstellen. So richtig böse konnte er auf seinen Chef trotzdem nicht sein, weil er sich an der Situation mitschuldig fühlte. Er sammelte die Zahlen und erstellte verschiedene Diagramme. Auch die Entwicklung der Vertragsvolumen über die 13 Wochen des vergangenen Quartals wurden gewünscht.

'Hm', dachte er. 'Es wäre ja einmal interessant, welcher Mitarbeiter welche Verträge bearbeitet und wieviel Provision er jeweils bekommen hat.' Aber auf diese aufgeschlüsselten Daten hatten die Mitarbeiter aus Datenschutzgründen keinen Zugriff.

'Der Chef weiß das bestimmt.', war sich Thomas sicher.

Als Thomas fertig war, mailte er das Dokument mit den Statistiken an seinen Chef. Kurz danach klingelte das Telefon. Sein Chef war dran: „Herr Zarger, kommen Sie 'mal in mein Büro!“

Sein Chef hatte immer noch schlechte Laune.

„Herr Zarger, das war doch nur die Hälfte der Arbeit. Damit kann ich nichts anfangen. Warum haben Sie keine fertige Präsentation der Daten erstellt?“

„Aber ich weiß doch gar nicht, wofür Sie die Daten benötigen. Woher soll ich das denn wissen?“, versuchte sich Thomas zu rechtfertigen.

Herr Schneider wurder lauter: „Aber das können Sie doch denken. Ich brauche Mitarbeiter, die mitdenken und nicht solche, denen ich jeden Kleinkram vorkauen muß. Nun machen Sie sich endlich an die Arbeit, ich brauche in einer Stunde die fertige Präsentation.“

Mit unterdrückter Wut verließ Thomas das Büro.

'Bin ich denn sein Fußabtreter! Aber wahrscheinlich hat er selber einen Abriß vom Lutze bekommen.'

Das tröstete Thomas ein wenig und sein Zorn verwandelte sich langsam in Schadenfreude.

Nachdem die Präsentation fertig und abgeschickt war, überlegte Thomas, wie es nun weitergehen soll. Er war unsicher, ob er sich noch einmal in den Rechner seines Chefs einloggen sollte.

'Damit mache ich mich doch sogar strafbar, oder?', überlegte Thomas. 'Außerdem kann er doch feststellen, ob eine Mail schon gelesen wurde.'

Es war schon nach halb fünf und er war immer noch unschlüssig, was er tun sollte. Er fing an, mit seinem E-Mail-Programm herumzuprobieren, ob man gelesene Mails wieder auf „ungelesen“ setzen kann. Er probierte herum und fand diese Funktion.

„Wozu braucht man so eine Funktion, außer zum heimlichen Lesen von fremden E-Mails?“ fragte er sich.

Gegen fünf verließ Herr Schneider das Büro und als der letzte Kollege aus seinem Büro nach Hause ging, gab sich Thomas einen Ruck und loggte sich wieder im Rechner seines Chefs ein. Er gab den Benutzernamen seines Chefs und ibdg2010 ein und er war wieder drinnen.

Zuerst schaute er in den Papierkorb. Dort waren über 500 Mails.

'Warum leert der seinen Papierkorb denn nie? Na ja wahrscheinlich, weil er im wirklichen Leben gewohnt ist, daß dauernd jemand hinter ihm her aufräumt und deshalb kann er auch auf seinem Computer keine Ordnung halten.'

Er fand die Mail von Herr Lutze, die er gestern löschen wollte und nach kurzem Überlegen löschte er sie nun endgültig.

Dann sah er oberhalb von dieser Mail eine gelöschte Mail von der Geschäftsleitung mit dem Betreff „Re: Mitarbeiterabbau war: Kostenentwicklung“.

Elektrisiert starrte Thomas auf den Betreff. Dann öffnete er die Mail:

Sehr geehrter Herr Schneider,
wir sind für Vorschläge Ihrerseits
natürlich offen.
Letztendlich hat aber hierbei
auch der Betriebsrat ein Mitspracherecht.
Ich bitte das zu beachten.

Mit freundlichen Grüßen
Lutze

>
>Sehr geehrter Herr Lutze,
>ich stimme Ihnen zu, daß die Firma
>die Kosten reduzieren muß.
>Hierzu erscheint mir eine Mitarbeiterreduktion
>unumgänglich.
>Als Kandidaten hierfür erscheinen mir
>Herr Zarger und Herr Leitner geeignet:
>Beide haben keine Familie und
>sind noch nicht so lange bei uns,
>so daß der Kündigungsschutz noch nicht greift.
>Ihre Tätigkeiten können sicherlich
>problemlos von den übrigen Mitarbeitern
>der Abteilung mit übernommen werden.
>Ich habe schon begonnen, durch diverse Maßnahmen
>diese Umstrukturierung vorzubereiten.
>Mit freundlichen Grüßen
>Schneider
>
>>Sehr geehrter Herr Schneider
>>aufgrund der ungünstigen Kostenentwicklung
>>des letzten Jahres werden wir
>>Sparmaßnahmen ergreifen müssen.
>>Hierbei möchte ich sie bitten,
>>Vorschläge dazu auszuarbeiten.
>>Mit freundlichen Grüßen
>>Lutze

Entsetzen machte sich bei Thomas breit.

'Deshalb hat er mich auf dem Kieker. Und seine vorbereitenden Maßnahmen sind, uns das Leben schwer zu machen. Wahrscheinlich will er uns beide sogar so rausekeln, daß wir selber kündigen, dann spart die Firma auch noch die Abfindung. Dann hat die Abteilung sogar richtig Kosten reduziert!'.

Verbittert loggte er sich aus, fuhr den Rechner herunter und fuhr nach Hause.

Am nächsten Tag hatte Thomas wieder nur niedrig provisionierte Verträge zu bearbeiten. 'So ein Mist, da fehlt mir am Monatsende richtig Geld. Das ist wohl Teil 2 seines Plans, mich 'raus zu ekeln.'

Während des Vormittags kam Herr Schneider kurz in Thomas' Büro.

Er fragte unfreundlich: „Wo ist Herr Schmidt?“.

Thomas' Kollege Michael antwortete: „Der hat heute und morgen frei.“

„Aha“, brummte Herr Schneider und wollte gerade wieder gehen.

„Ach, Herr Schneider“, fragte Thomas. „War die Präsentation so in Ordnung?“, denn er hatte bisher keine Rückmeldung bekommen.

„Ja ja“, antwortete Herr Schneider kurz angebunden und verließ das Büro.

'Das heißt `Danke` du Arsch. Aber das paßt wohl nicht zu Deinem Plan, mich loszuwerden.', dachte Thomas.

Am späten Nachmittag war Thomas wieder alleine im Büro.

'Schon wieder der letzte im Büro!', dachte er. 'Könnte ich durch viel Einsatz noch etwas ändern? Oder ist eine Entlassung schon beschlossen? Diese Unfairness und diese Hilflosigkeit macht mich verrückt.'

Thomas merkte, daß er wieder zornig wurde.

'Da kann ich ruhig auch weiterhin die Mails vom Schneider lesen. Er kann mich eh nur einmal feuern.'

Kurz entschlossen loggte er sich wieder ein und öffnete die Mailbox von Herrn Schneider.

'Was schaue ich mir jetzt an? Kann ich vielleicht irgendetwas finden, womit ich meine Entlassung verhindern kann? Was schreibt der Schneider denn eigentlich so?'

Thomas öffnete den „Gesendet“-Ordner. Eine Mail mit dem Betreff „Ich bin der Größte“ stach ihm ins Auge. 'Der ist ja ganz schön größenwahnsinnig. Was das wohl ist?' Neugierig öffnete Thomas diese Mail.

Hallo Mausi,
Ich bin der Größte. Ich habe es geschafft und bin jetzt Abteilungsleiter.
Ich denke, ich kann es im nächsten Jahr zum Niederlassungsleiter schaffen, wenn ich die Trantüten in meiner Abteilung noch etwas antreibe, denn die Zahlen müssen ja stimmen.
Außerdem hat der Alte eh Autoritätsprobleme; den müßte ich locker von seinem Platz verdrängen können.
Ich gehe jetzt auch einmal die Woche mit dem Schulze aus dem Vorstand zum Badminton, da wird bestimmt was gehen.
Nächsten Mittwoch wieder bei Dir, um 17:00.
Dein Bärchen

'Ob „Mausi“ seine Frau ist?'

Er schaute auf die Uhr. 'Heute ist ja Mittwoch und es ist halb sechs.'

Thomas überlegte kurz, suchte dann die Privatnummer seines Chefs raus und rief ihn an. Es meldete sich die Frau seines Chefs, die ihm sagte, daß er noch nicht zu Hause sei, weil er noch bei einem Kunden wäre. Thomas bedankte sich und legte auf.

'Aha, „Kunde“. Also sind seine Mitarbeiter nicht die einzigen Menschen, die er schlecht behandelt.', dachte Thomas und fühlte den Wunsch nach Rache mehr und mehr in sich aufsteigen.

Er schaute sich die Empfänger-Adresse der Mail an: wildeeva@my-email.de.

Es gab noch mehr Mails an diese Eva, aber es war kein Hinweis auf die Identität dieser Frau zu finden.

'Halt, da gibt es doch eine Eva in der Buchhaltung, wie hieß die noch?'

Er schaute im internen Adreßverzeichnis nach: Eva Mauser.

'Na, das wird wohl Mausi sein', dachte er und guckte ins Telefonbuch und siehe da, es gab nur eine Eva Mauser in der Stadt.

Dann griff er wieder zum Telefon und wollte noch einmal Frau Schneider anrufen. Nach kurzem Zögern rief er dann doch über sein Handy an:

„Hier Müller“, meldete er sich und versuchte seine Stimme etwas zu verstellen. „Ihr Mann hat mich gebeten, daß sie ihn abholen sollen, weil sein Auto streikt... Er ist noch bei einem Kunden... Ja, ich gebe Ihnen die Adresse... ja, ich warte... Mauser, Schubertstraße 5, ja, hier in der Stadt... Ich sag' ihm Bescheid, daß Sie gleich kommen. Vielen Dank. Auf wiederhören.“

Voll Euphorie legte er den Hörer auf, aber dann verließ ihn wieder der Mut. 'Was mache ich hier eigentlich? Das kann doch eigentlich nur böse enden. Wenigsten kennt der Schneider nicht meine private Handy-Nummer.' Er fuhr den Rechner runter und fuhr nach Hause.

Abends zu Hause grübelte er weiter herum. 'Was nützen mir meine Racheakte überhaupt? Selbst wenn seine Frau ihn verläßt, wird er mich feuern.' Betrübt ging er ins Bett und konnte lange nicht einschlafen.

Am nächsten Morgen unterdrückte er den Impuls, auf dem Weg zur Arbeit einen Umweg am Haus seines Chefs vorbei zu fahren.

Der Arbeitstag begann normal. Herr Schneider kam später und hatte eine noch schlechtere Laune als sonst. Mehrfach kam er in Thomas' Büro und fuhr ihn oder einen seiner Kollegen wegen Banalitäten an.

Mittags gingen die Kollegen von Thomas' Büro und vom Büro schräg gegenüber gemeinsam in die Kantine. Max Leitner leitete die Kollegen mit verschwörerischer Miene an einen Tisch in einer geschützten Ecke.

Und er begann in leisem Ton: „Ich muß euch etwas erzählen. Ich verstehe mich ja mit der Gabi aus der Buchhaltung ganz gut und sie hat mir vorhin etwas erzählt, das glaubt ihr nie. Ihre Kollegin, die Eva Mauser, kam heute mit verheultem Gesicht ins Büro und jammerte heulend dem gesamten Büro etwas vor. Da sitzen ja 8 Mitarbeiter drinnen und deshalb weiß wohl bald die ganze Firma, was passiert ist.“

Gespannt sahen ihn die anderen an.

Er setzte fort: „Eva Mauser - und jetzt haltet euch fest - hatte ein Verhältnis mit unserem Boß, dem Schneider.“

„Das gibt es doch nicht, und das hat keiner gewußt!“, rief ein anderer Kollege.

„Ja, aber es kommt noch besser. Gestern abend hat die Frau vom Schneider beide in flagranti erwischt. Er war bei Eva gerade zugange und dann hatte es geklingelt und der Schneider ist im Bademantel zur Tür gegangen und als er öffnete, stand seine Frau vor ihm.

Dann hat Eva auch noch gerufen 'Wer ist es denn, mein Bärchen?' und dann ist die Frau vom Schneider explodiert und hat ihm eine gelangt. Das war so laut, daß Eva das noch aus dem Schlafzimmer hören konnte. Dann ist die Frau vom Schneider abgedampft und der Schneider wollte sich wieder anziehen, um ihr nachzulaufen und mit ihr zu reden.

Daraufhin hat Eva ihn gebeten zu bleiben, weil sie wirklich geglaubt hatte, daß der Schneider sie liebt und sich irgendwann von seiner Frau sowieso trennen wollte, und das wäre ja jetzt die Gelegenheit, ernst zu machen. Das wollte der Schneider aber dann doch nicht und hat ihr gesagt, daß das doch nichts dauerhaftes werden könnte, mit Eva und ihm, und dann hat sie ihm auch eine gelangt und hat ihm heulend seine Sachen vor die Tür und ihn hinaus geworfen. Er stand dann im Bademantel im Hausflur und mußte sich ruckzuck anziehen und ist verduftet.“

Alle Kollegen brechen in schadenfrohes Gelächter aus. „Da kann der Schneider richtig Ärger kriegen“, sagte jemand. „Es wird nämlich von der Geschäftsleitung nicht gerne gesehen, wenn ein Abteilungsleiter sich mit einer einfachen Mitarbeiterin einläßt.“

„Auf alle Fälle ist er jetzt zum Gespött der ganzen Firma geworden.“, sagte ein anderer.

Es wurden noch mehr schadenfrohe Bemerkungen geäußert, da Herr Schneider eigentlich bei niemandem beliebt war.

Der Nachmittag verlief ganz normal und Thomas wartete gespannt darauf, daß seine Kollegen nach Hause gingen. Er war neugierig, ob und wie Herr Schneider das gestrige Erlebnis irgendwie kommentiert hatte. Nachdem er alleine zurückblieb, loggte er sich wieder in den Rechner seines Chefs ein.

Er fand jeweils eine Mail an Eva Mauser und eine an Frau Schneider. In beiden bat er um Verzeihung und beteuerte, daß das alles ein Mißverständnis wäre. 'Der ist ja ein ganz schön abgebrühtes Schwein!', dachte Thomas.

Eine Antwort-Mail fand er aber nicht, von keiner der beiden Frauen.

Gespannt suchte er weiter und dann fand er eine Mail von Herrn Schneider an die Geschäftsleitung, in der er das Verhältnis mit Eva Mauser als einmaligen Fehltritt darstellt und einen Hinweis, daß er aus familiären Gründen für einige Zeit in einem Hotel wohnen müsse.

Thomas fand auch eine sehr unfreundliche Antwort-Mail von Herrn Lutze. Anscheinend kann die Angelegenheit noch ein unangenehmes Nachspiel für Herrn Schneider haben.

Thomas freute sich. 'Rache kann ja wirklich süß sein.', dachte er. 'Aber wie geht es weiter? Mein Problem bleibt bestehen. Solange mir der Schneider nur schlecht provisionierte Verträge zum Bearbeiten zuweist, kann ich keine besonders guten Ergebnisse erarbeiten, denn meine Jahreserfolgsbilanz wird auch über die Provisionen berechnet. Ich kann Einsatz bringen, wie ich will, aber ich erreiche damit nichts. Ich sitze in der Falle, solange der Schneider die Zuweisung der Verträge kontrolliert.'

Er dachte weiter nach. 'Soll ich ihn mit irgendetwas aus seinen Mails unter Druck setzen? Aber nein, damit mache ich mich erst recht strafbar, als ich es sowieso schon tue. Vielleicht finde ich etwas in der Provisionsliste.'

Er öffnete sie, aber er konnte erstmal nichts erkennen, da Herrn Schneider keine Provisionen gutgeschrieben waren. Dazu gab es vor einer Woche eine Mail der Geschäftsleitung, in der beschrieben wurde, daß sämtliche Vertragsprovisionen an die Mitarbeiter gehen sollen und der erfolgsabhängige Gehaltsbestandteil des Abteilungsleiters aus dem Gesamtergebnis der Abteilung ermittelt wird.

Dann fand er in der Provisionsliste einen Button, der die Provisionen aller Abteilungsmitarbeiter anzeigt. 'Aha, der „Chef“-Button. Den gibt es bei mir nicht.'

In der Übersicht aller Verträge des letzten Monats sah Thomas, daß bis auf wenige Ausnahmen alle lukrativen Verträge nicht provisioniert wurden. Das waren u.a. alle Verträge, die ein Volumen über 1 Millionen Euro pro Jahr hatten, darunter auch der Vertrag mit der Firma „Sorger“, der ihm weggenommen wurde.

Für ihn und die meisten seiner Kollegen blieben nur die Brosamen übrig, obwohl sie für viele dieser lukrativen Verträge einen Großteil der Vorarbeit geleistet hatten.

'Das verstehe ich nicht.', dachte er. 'Was hat der Schneider davon, wenn er uns unsere Provisionen vorenthält und wieso darf er das überhaupt?'

Er suchte weiter und fand auf dem Rechner seines Chefs ein Dokument mit dem Namen „Provisionierung.pdf“. Ihm wurde schwindlig, als er das Dokument las.

Die Provisionen wurden aus dem Abteilungsetát bezahlt und konnten in Ausnahmefällen gestrichen werden, falls durch Fehler eines Mitarbeiters der Vertrag in Gefahr geraten würde und nur durch Intervention der Abteilungsleitung abgeschlossen werden könnte.

'Also unterstellt er bei allen lukrativen Verträgen, daß wir Mist bauen, damit er selbst mit fadenscheinigen Argumenten eingreifen kann und uns um unsere Provision bringt. Dadurch hat seine Abteilung weniger Kosten und ein besseres Ertragsergebnis. Dazu kommt noch, daß es keinerlei unabhängige Kontrollinstanz für die Provisionierung gibt.', dachte Thomas verbittert.

'Ich sitze in der Falle und nicht nur ich, sondern meine Kollegen auch. Der Schneider kann mit uns umspringen, wie er will und wir können nichts machen. Wer hat sich so ein System denn ausgedacht!'

Nach dem er ein paar Minuten auf den Bildschirm gestarrt und gegrübelt hat, kam er darauf, sich einmal den Kalender von Herrn Schneider anzusehen.

'Wow, hat der viele Termine. Herr Wichtig-Wichtig muß ja auch wichtige Termine haben. Hm, das nächste Abteilungsleitertreffen, wofür er meine Präsentation braucht, ist erst morgen um 14:00. Der Zeitdruck war also wiedermal reine Schikane.'

Bei dem Gedanken an diese Präsentation kam ihm eine Idee, die zu einem Plan reifte. Er suchte die Präsentationsdatei auf dem Rechner seines Chefs und öffnete sie zum Bearbeiten.

'Programme zum Erstellen von Präsentationen haben wohl alle Chefs auf ihrem Rechner.', dachte Thomas.

Er ging zu der Folie, auf der die Entwicklung der Vertragsvolumen angezeigt wurde und fügte dort die Kurve mit den für das vergangene Quartal ausgezahlten Provisionen hinzu. Der große Unterschied zwischen beiden Kurven war Thomas bis zum heutigen Nachmittag noch nie aufgefallen.

Thomas überdachte seinen Plan noch einmal: 'Diese zusätzliche Kurve ist natürlich schon auffällig, allerdings kann man die insgesamt ausgezahlten Provisionen auch als einfacher Mitarbeiter durchaus ermitteln. Bisher hat das keiner gemacht, weil noch keiner mit solchen Schweinereien gerechnet hat. Und dazu kommt, daß der Schneider noch zwei Termine direkt vor seinem Abteilungsleiter-Meeting hat und er daher dieses Meeting wahrscheinlich schon fertig vorbereitet hat und vorher gar nicht mehr in diese Präsentation guckt. Und außerdem soll ich ja selbstständig mitdenken und das habe ich nun getan!'

Ein Risiko blieb noch, da man feststellen könnte, wann die Datei zuletzt geändert wurde, aber Thomas hoffte, daß sein Chef darauf nicht achtete.

Er loggte sich aus, fuhr den Rechner herunter und verließ die Firma.

Am nächsten Tag fühlte er sich erstaunlich ruhig. 'Anscheinend habe ich bei meinen Streichen schon Routine', dachte er.

Bis zum Nachmittag passierte nichts Ungewöhnliches. Aber dann kam kurz nach drei Herr Schneider mit rotem Kopf in Thomas' Büro. „Was haben Sie sich bei dieser Präsentation nur gedacht?“, fuhr er ihn an.

„Aber was stimmt denn nicht?“, rechtfertigte sich Thomas. „Habe ich mich irgendwo mit einer Auswertung vertan?“.

„Wer hat Ihnen gesagt, daß sie die Provisionssummen zusammen mit der Entwicklung der Vertragsvolumina in der Grafik anzeigen sollen?“

„Aber ich dachte, daß diese Werte vielleicht interessant für Sie sind und außerdem hatte ich Sie doch vorgestern gefragt, ob die Präsentation so in Ordnung ist.“

Herr Schneider wußte nicht, was er dazu sagen sollte und verließ wütend das Büro.

„Was hat der denn?“, fragte Thomas' Kollege Michael.

„Keine Ahnung. Der ist doch immer so.“

Nach 17:00 war er wieder alleine im Büro. 'Was für eine Woche!', dachte er. 'Ich war jeden Tag länger als sonst im Büro, aber ich hoffe, es wird sich auszahlen. Teil 1 meines Plans hat anscheinend geklappt. Jetzt kommt Teil 2.'

Er loggte sich wieder als „Schneider“ ein und öffnete den Internet-Browser. Zu Hause hatte er sich im Internet eine anonyme E-Mail-Adresse besorgt und ging auf die Seite dieses E-Mail-Providers. Dann verfaßte er eine Mail, daß Herr Schneider seinen Mitarbeitern die Provisionen ungerechtfertigerweise vorenthalte. Er kopierte dazu einige Textpassagen aus dem Provisionierungsdokument, das er gestern gefunden hatte. Als Beweis legt er als Anhang seine Präsentation bei, die noch auf dem Rechner seines Chefs gespeichert war und verwies auf die Folie, auf der die Vertragsvolumina mit den ausgezahlten Provisionen verglichen wurden. Er adressierte die Mail an Herrn Lutze und schickte sie gleichzeitig per CC an die Geschäftsleitung, an den Betriebsrat und an einige Mitarbeiter aus seiner Abteilung.

Er überdachte noch einmal alles und drückte dann den „Senden“-Button.

'So', dachte er, 'jetzt ist Wochende. Jetzt mache ich Party und harre der Dinge, die da kommen werden.'

Am nächsten Montag konnte er es kaum erwarten, ins Büro zu kommen und sein Kollege Michael empfing ihn aufgeregt.

„Hast Du es schon gehört? Der Schneider ist mit sofortiger Wirkung beurlaubt worden und darf sein Büro nicht mehr betreten.“

Thomas versuchte überrascht zu wirken: „Wie ist das passiert?“

„Jemand hat Deine Präsentation an den Vorstand, an Herrn Lutze, an den Betriebsrat und an einige aus unserer Abteilung geschickt und auf den großen Unterschied zwischen Vertragsvolumina und ausgezahlter Provision hingewiesen. Dadurch wurde deutlich, daß Schneider uns unter fadenscheinigen Gründen Provisionen vorenthalten hat. Da hat der Betriebsrat Druck gemacht, und Schneider wurde sofort beurlaubt, um die Vorwürfe genauer zu prüfen. Einige Kollegen haben Dich als Urheber der Mail vermutet, aber in der Mail standen auch einige Interna, die nur ein Abteilungsleiter wissen konnte. Wahrscheinlich hat einer der Abteilungsleiter auf dem letzten Abteilungsleiter-Meeting Eins und Eins zusammengezählt und den Schneider abgeschossen. Das hätte ich denen gar nicht zugetraut, die wirkten doch immer so wie ein Geheimclub. Aber die Art und Weise ist natürlich schon seltsam.“

Thomas fuhr seinen Rechner hoch und schaute nach seinen Mails. Da kam gerade eine neue Mail von Herrn Lutze. In der stand, daß Herr Schneider im beiderseitigen Einvernehmen (hierbei mußte Thomas grinsen) in eine andere Niederlassung versetzt wurde, und ihr neuer Abteilungsleiter Herr Schott wird.

Thomas atmete tief durch. 'Jetzt kann ich das Paßwort wohl vergessen.', dachte er.


ENDE



Peter Schütt 2010-06-12